1997: Zweiter Anlauf für den Tatort aus Bremen
Am 28. Dezember 1997 kommt mit der Folge "Inflagranti" nach 25 Jahren wieder eine Tatortfolge aus Bremen.
Achtung, Spoilerwarnung – hier werden essenzielle Bestandteile der Handlung des Films erwähnt. Wenn Sie diese Tatort-Folge allerdings bis heute nicht gesehen haben, sollten Sie das vielleicht zuerst tun, bevor Sie diesen Artikel weiterlesen. Es lohnt sich.
Sonntagabend, 20:15 Uhr, die Tagesschau ist gerade vorbei, die Wetteraussichten sind – nun ja – dezembertypisch ungemütlich. Aber das ist Fernseh-Deutschland in diesem Moment traditionell sehr egal. Schließlich geht es jetzt ans kollektive Ermitteln. Dazu versammeln sich die "Homeoffice"-Kommissare und -Kommissarinnen wie jeden Sonntagabend vor der Flimmerkiste. Die Dienstkleidung: Hauptsache schön bequem. Die Ausrüstung: etwas zu trinken, vielleicht ein kleiner Snack und dann schnell an den Schreibtisch, sprich: gemütlich in den Sessel gefläzt und die Sinne geschärft.
Die Ära Lürsen beginnt
Es geht los, das bekannte Intro, die Vorfreude steigt – so weit, so normal, doch schon in den ersten Sekunden fällt den Menschen vor dem Fernseher etwas außergewöhnliches auf: das Tatort-Setting ist neu, noch nie zuvor über die Mattscheibe geflimmert. Die Fans sehen gerade die ersten Minuten einer neuen Ära: das Ermittlerteam Lürsen/Stoll (der allerdings recht bald aussteigt und nach kurzen, wechselnden Intermezzi 2001 schließlich von einem Herrn Stedefreund ersetzt werden wird) beginnt seine 22-jährige Dienstzeit, wenngleich die beiden sich in den ersten Momenten vornehm zurückhalten und ihren ersten Auftritt erst nach 16 Minuten in dem unter der Regie von Petra Haffter verfilmten Drehbuch von Sabine Thiesler haben .
Richtig, da gab es schon mal einen Radio-Bremen-Tatort, fast ein Vierteljahrhundert ist das her. "Ein ganz gewöhnlicher Mord" mit Hauptkommissar Böck (Hans Häckermann), Regie führte Dieter Wedel. Bis heute war Bremen "Tatort"-Diaspora.
Jetzt endlich spielt auch Bremen wieder in der ersten Liga der Filmkrimis. Radio Bremen hat ein Ermittlerteam an den Start gebracht – gekommen, um zu bleiben (und zu ermitteln, natürlich): Kriminalhauptkommissarin Inga Lürsen und ihr Assistent, Kommissar Stefan Stoll, setzen Bremen im deutschen Sonntagabend-Krimi wieder auf die Landkarte.
Lürsen wird gespielt von Sabine Postel, die neben kleineren Auftritten in der Top-Liga der deutschen Fernsehklassiker (u.a. Traumschiff, Lindenstraße, Großstadtrevier, Schwarzwaldklinik) vor allem aus der Radio-Bremen-Serie "Nicht von schlechten Eltern" bekannt ist. Tatort-Erfahrung hat sie auch bereits, als Nebenrolle "Vera" im 1989-er Schimanski-Tatort "Der Pott" (übrigens zusammen mit Rio Reiser und ihrem späteren "Kollegen" aus München – Miroslav Nemec, der dort den Ermittler Ivo Batic spielt).
Lürsens Assistent Stefan Stoll kommt dem Publikum auch nicht unbekannt vor, schließlich hat Darsteller Rufus Beck drei Jahre zuvor den Walter bzw. die Waltraud im Erfolgsfilm "Der bewegte Mann" gespielt. Auch er geht mit Tatort-Erfahrung gewappnet in das neue Abenteuer: 1992 spielte er den Mickey im Odenthal-Tatort "Falsche Liebe", zwei Jahre später frischte er sein Können im Ballauf-Tatort "Mord in der Akademie" auf.
Doch solche Fakten sind im Fernsehsessel in den Momenten eher zweitrangig, wichtiger ist, was auf der Mattscheibe passiert. Und ja, ein Sessel ist nicht nur vor dem Fernseher ein zentrales Element, nein, auch "Inflagranti", so der Name der Folge, rückt ihn in den Mittelpunkt. Als Tatwaffe beziehungsweise zumindest als eines der Mordwerkzeuge. Er versperrt dem saunierenden Bauunternehmer Peter Broders den Ausweg aus dem hauseigenen Dampfbad, sodass dieser schließlich an einem Kreislaufzusammenbruch verstirbt.
Lürsen und Stoll begeben sich auf Spurensuche. Broders Ehefrau hat zwar ein Alibi, aber das hält nicht lange. Und ein Motiv hat sie auch: sie war Opfer häuslicher Gewalt und hatte außerdem eine Affäre, die ihr Mann aufgedeckt hatte. Sie weist jegliche Vorwürfe von sich und belastet ihren Freund. Und dann ist da auch noch Jan, der Sohn der Broders, der mit dem plötzlichen Tod seines Vaters nicht gut klarkommt, und dessen sich Lürsen annimmt. Doch kurz nachdem auch er den Freund seiner Mutter belastet, verschwindet Jan und Lürsen und Stoll müssen im Wettlauf gegen die Zeit den Jungen finden, bevor Schlimmeres passiert.
Dass Lürsen und Stoll bei ihren Ermittlungen überhaupt weiterkommen, verdanken sie auch ein wenig der Kurzsichtigkeit und/oder Gutgläubigkeit ihres Ermittlungsumfeldes – haben doch beide die identische Dienstnummer in ihren Dienstausweisen stehen: 000. Aber dass sich daran niemand stört, das mag vielleicht auch daran liegen, dass die Ausweise sonst nicht nur täuschend, sondern tatsächlich echt sind. An diesem Punkt vermischen sich die fiktive Fernsehwelt und die Realität: die Bremer Polizei hat es sich nicht nehmen lassen, in einer eigens anberaumten Pressekonferenz mit Lürsen und Stoll ihre "Neuzugänge" zu präsentieren und ihnen dabei auch echte Dienstausweise überreicht, nur eben mit dem kleinen Schönheitsfehler bei der Dienstnummer.
Doch solch kleine Ungereimtheiten gehören auch zum Filmemachen dazu und schließlich musste sich das gesamte Team, Produktion und Schauspieler*innen, natürlich auch etwas eingrooven, um perfekt miteinander arbeiten und höchste Qualität mit Zufriedenheitsgarantie abliefern zu können.
Ich fand den Film ein bisschen hölzern und auch mich ziemlich steif. Wir haben im eisigen Winter gedreht. Ich hatte gefühlt 33 Wärmejacken an, darüber noch einen flauschigen Wollmantel. Mein Sohn sagte, ich sähe aus wie eine Rumkugel. Und das stimmte leider ... Zum Glück hat mich das nicht abgeschreckt, weiter zu machen.
Sabine Postel
Wetter und "Frostbeule" Postel waren vielleicht auch zwei Gründe dafür, weshalb die erste Bremer Tatortfolge der neuen Zeitrechnung in rekordverdächtigen vier Tagen abgedreht wurde, was aber der Qualität des fertigen Filmes überhaupt nicht anzumerken ist.
Der Boulevard nimmt den ersten Tatort des neuen Bremer Ermittlungsteams dennoch etwas zurückhaltend auf, das Publikum aber findet nachweislich Gefallen an Lürsen und Co. (7,31 Mio/ Marktanteil 20,03 Prozent; Nachfolger mit fast identischen Quoten ) und schalten seitdem immer wieder ein, wenn am Sonntagabend wieder durch Bremen und Umzu ermittelt, gefahndet und aufgeklärt wird. Bis Lürsen und Stedefreund 2019 sich, unter der Trauer der Fangemeinde den berühmten Leitspruch zu Herzen nehmen: Wenn es am schönsten ist, sollte man gehen. Nach 22 spannenden Jahren, die ihren Anfang nahmen am 28. Dezember 1997, als nach Susan Stahnke und der Tagesschau die Tatort-Melodie für den ersten Bremer Tatort der Lürsen-Zeitrechnung spielte: "Inflagranti".