2010: Die Digitale Garage
In dieser jungen Entwicklungs-Abteilung geht es darum, Inhalte und Ausspielwege zu kreieren, mit denen jüngere Zielgruppen wieder stärker an Radio Bremen gebunden werden können.
Im Ersten sind sie nicht mehr, dafür aber massenweise bei Facebook. Gerade mal vier Prozent der unter 30-Jährigen schauen noch das "Erste Deutsche Farb-Fernsehen”. Die anderen 96 Prozent tummeln sich immer zahlreicher im Internet auf Plattformen wie YouTube und Facebook. Dort gibt es zwar eine Menge zu sehen und zu lesen, aber kaum Inhalte der öffentlich-rechtlichen Anstalten.
Einigen Medienmacher*innen schwant, dass diese verlorene Generation nicht einfach so zurück zu den Öffentlich-Rechtlichen finden wird. Auch nicht im Alter.
Im Oktober 2010 ruft Radio Bremen-Intendant Jan Metzger daher zusammen mit Bremen Vier Wellenchef Helge Haas das Projekt "360 Grad" aus. Metzger ist als Intendant bei Radio Bremen angetreten mit dem Ziel, dass elektronische Medien ihren Blickwinkel erweitern, nicht mehr nur 180 Grad zum Empfänger, sondern eine vernetzte Landkarte mit einer 360 Grad-Perspektive. Den ersten Schritt dazu will er mit der Digitalen Garage als kleinem Entwicklungslabor machen. Zum Start gibt es viele gute Worte, einen langen Tisch in einem Konferenzraum und zwei Kisten Bier.
Im Kern geht es darum, mit sechs frischgebackenen Jungredakteur*innen Strategien für den Einsatz in sozialen Netzen zu entwickeln, und darüber nachzudenken, wie jüngere Zielgruppen wieder stärker an Radio Bremen gebunden werden können. Die stehen im Fokus des 360 Grad-Projekts. 15- bis 25-Jährige, die ganz selbstverständlich mit Internet und sozialen Netzwerken aufwachsen, und immer seltener die linearen Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender nutzen.
Dass diese Generation noch nicht ganz verloren geht, daran arbeiten die jungen Radiowellen der ARD - und während andernorts noch heftig diskutiert wird, sind 1Live vom WDR, Bremen Vier und andere schon mehr oder weniger zaghaft auf den sozialen Plattformen unterwegs.
Kreative Unruhe stiften
Ausgestattet mit viel kreativer Freiheit und einer entschärften Firewall geht es in den ersten zwei Monaten des 360-Grad-Projekts nicht so sehr um konkrete Ergebnisse, sondern vielmehr darum, möglichst viel kreative Unruhe bei Radio Bremen zu stiften. Und es funktioniert. Mit Programmbeobachtung und mit einfachen, aber nichtsdestotrotz wichtigen Fragen, direkt an die Kollegen. "Habt ihr Beiträge, die auch für eine jüngere Zielgruppe interessant sein könnten?", "Wie erreicht ihr euer Zielpublikum?", "Welche Rolle spielen die sozialen Netzwerke für euch?" Beobachten, fragen und - konfrontieren. Schüler, Schülerinnen und Auszubildende werden direkt zu Radio Bremen eingeladen und dürfen Programm und Programmschaffende kritisieren. Das ist manchmal ganz schön unbequem. Und immer wertvoll.
Nach zwei Monaten wird aus dem 360-Grad-Projekt eine Redaktion geformt. Die Digitale Garage ist geboren. Gründungsmitglieder sind die ehemaligen Volontäre Lena Döring, Andrea Suhn, Isabelle Werner, Teja Adams und Redaktionsleiter Marcello Bonventre von Bremen Vier. Je nach Projekt und Format arbeiten in der Digitalen Garage Medienstudenten und -studentinnen, Kreative, Volontäre und Volontärinnen, junge Autoren und Autorinnen, Journalisten und Journalistinnen zusammen – und docken danach als Reporter- und Reporterinnen, Redakteure und Redakteurinnen in unterschiedlichen Redaktionen im ganzen Haus an. Sowohl im Fernsehen als auch im Hörfunk – aber egal, in welchem Bereich sie landen, der so kompetente wie auch kritische Umgang mit sozialen Medien und transmediales Arbeiten ist für sie selbstverständlich.
Ganz im Sinne von BBC World Service Director Peter Horrocks. Der sagt, "Social Media" sei keine Frage rein privater Neigung technikaffiner Journalisten. "Das ist nicht irgendeine Marotte von einem Technik-Enthusiasten. Ich fürchte, man kann den Job nicht mehr machen, wenn man sich damit nicht auskennt."
Die Digitale Garage ersinnt und begleitet eine ganze Reihe von Projekten bei Radio Bremen. "Pendlercheck", "Plattdeutsch-App", "Geht Wählen"-Spots oder beispielsweise das transmediale Spiel "Rettet Jana" zum Radio-Bremen-Tatort "Alle meine Jungs".
Wer bei dieser Online-Schnitzeljagd mitmacht, muss damit rechnen, auch im echten Leben Textnachrichten, Anrufe und sogar echte Briefe mit blutigen Pflastern zu erhalten. Ein Riesenerfolg, vor allem bei den unter 20-Jährigen!
Tageswebschau und Wochenwebschau
In der Digitalen Garage konzipiert und umgesetzt werden auch die "Tageswebschau", bei der Radio Bremen mit der Tagesschau und dem Hessischen Rundfunk zusammenarbeitet, und das Nachfolgeformat, die "Wochenwebschau" – beide Formate werden sowohl in den Digitalkanälen der ARD als auch in den sozialen Medien ausgespielt. Mehr dazu hier.
Nach drei Jahren ist Schluss mit "Tageswebschau" und "Wochenwebschau". Die Expertise der Garagen-Reporter und -Reporterinnen bleibt aber weiter gefragt. Täglich liefern sie als ARD-Netzreporter*innen Beiträge fürs "ARD Morgenmagazin" im Ersten und für tagesschau.de.
Content-Netzwerk funk
Ab 2016 werden in der Digitalen Garage die Zulieferungen für funk gebündelt, dem jungen Content-Netzwerk von ARD und ZDF. Das "Y-Kollektiv" wird gegründet, und arbeitet fortan nur einen Katzensprung entfernt auf der anderen Seite der Weser. Woche für Woche berichten sie mit großer Resonanz und Millionen von Videoabrufen auf den sozialen Plattformen. In manchen Monaten kommt jede zehnte geschaute funk-Minute vom "Y-Kollektiv". Ab 2018 laufen Reportagen auch im Ersten unter dem Namen "Rabiat". In der Digitalen Garage konstituiert sich derweil die Redaktion für ein weiteres, sehr erfolgreiches Format: Die Sportsatire "Wumms" wird eines der reichweitenstärksten Formate bei funk.
Weitere, mit zahlreichen Auszeichnungen bis hin zum Grimme-Preis versehene Formate für funk sind "Wishlist", "Einigkeit&Rap&Freiheit", "Was mit Fabian" und "Klicknapped".
Dadurch, dass die Digitale Garage konsequent und verlässlich mit jungen Menschen an jungen Inhalten arbeitet und diese beständig weiterentwickelt, erarbeitet sich das kleine Radio Bremen eine besondere Position innerhalb der großen ARD und des funk-Netzwerks.
Natürlich kann niemand vorhersagen, wie sich das alles weiterentwickelt. Die digitale Medienwelt verändert und dreht sich immer schneller. Die ganz jungen Menschen sind längst nicht mehr bei Facebook, niemand weiß, welches soziale Netzwerk oder welche Plattformen in ein paar Monaten oder Jahren total angesagt ist. Die Digitale Garage bei Radio Bremen aber immerhin ist weiter mittendrin, in diesem Prozess, und bleibt – hoffentlich – kreativ unruhig!
Übrigens: Von den beiden Kisten Bier wird bis zum Ende des Projekts 360-Grad nach zwei Monaten nur eine Kiste, und die dann auch nur zur Hälfte, geleert.