1985: Extratour mischt Fernsehunterhaltung auf
Am 17. Januar 1985 mischt Radio Bremen die deutsche Fernsehunterhaltung ein weiteres Mal kräftig auf. Die "Extratour" bringt mit einer Mischung aus Popmusik, Newsshow, Kabarett und Sketchen frischen Wind in das eher eintönige Fernseh-Unterhaltungsallerlei.
Die innovative Show wird moderiert von dem Kabarettisten Stefan Viering und der noch wenig bekannten Margarete Schreinemakers, die sich nicht nur mit ihrem Alter von 26 Jahren, sondern auch mit ihrem Gewicht vorstellt: 50 Kilogramm. Michael Leckebusch ist der vom Beat-Club und Musikladen bestens bekannte Regisseur und Redakteur des Musikprogramms. Leckebusch setzt auch bei der Extratour auf bekannte Hitparadenstars wie Depeche Mode, bringt aber auch wieder jede Menge spätere Superstars ins deutsche Fernsehen. Beispielsweise Frankie goes to Hollywood oder Jennifer Rush.
"Hier kommt ein Karton"
Ein wiederkehrendes Element in der "Extratour" sind gezeichnete Cartoons. Sie werden angekündigt von einem hockenden kleinen Kind, das den Satz spricht: "Hier kommt ein Karton!" Das Kind wird aus dem Off korrigiert: "Das heißt Cartoon". Nachdem das Kind seinen Satz "Hier kommt ein Karton" wiederholt, fällt ein großer mit "Cartoon" beschriftet Karton mit der offenen Seite nach unten auf das Kind.
Tollkühne Reportagen
Die durch das Fernsehregionalmagazin buten un binnen zumindest in und um Bremen und Bremerhaven bekannten Christian Berg und Michael Geyer sorgen als Außenreporter für tollkühne Reportagen. Die beiden trauen sich was. So stehen sie im Bremer Hauptpostamt und bieten dem Fernsehpublikum einen "ganz besonderen Bürgerservice". "Wir sagen Ihnen schon heute, was Sie morgen in der Post haben", behaupten Berg und Geyer, fischen sich Briefe vom Förderband und lesen vor: "An Marion Rinklage, Geestemacher Straße 23 in Bremerhaven: Mein liebes Purzelchen …" Sogar einen Bescheid der Bundesversicherungsanstalt öffnen die Reporter, zitieren daraus aber nur einen Teil, denn "ein bisschen Überraschung sollte dem Empfänger noch bleiben". Erst gegen Ende der Sendung wird die Aktion als Gag aufgeklärt.
Einigen Bremer Autofahrern machen die Reporter das Angebot, gegen eine Monatskarte für die Straßenbahn den Wagen für eine Woche lang stehen zu lassen. Bedingung: Sie müssen sofort auf ihr Auto verzichten. Tatsächlich sind dazu ein paar Autofahrer bereit und lassen ihr Auto an Ort und Stelle direkt auf einen Abschleppwagen laden.
Auch Showmaster Rudi Carrell mischt bei der Extratour mit und ist sich für einen Gag nicht zu schade. Er klingelt bei einer ahnungslosen Familie und bittet sie, bei einem Mini-Quiz mitzumachen. Zweiter Preis ist ein Essen mit dem Showmaster, der erste Preis: ein Essen ohne Rudi Carrell.
Spektakuläre Aktionen
Der Kabarettist Bruno Jonas bekommt einen festen Platz in der Extratour, doch es wird gerade um diese Programminhalte auch Ärger geben. Das anarchistische Berliner Kabarett-Trio "Die drei Tornados" erklärt in einer Sendung, dass es nicht gewillt sei, aufzutreten, weil es sein Programm ein paar Wochen vor der Bundestagswahl nicht wie geplant spielen dürfte. "Unsinn", zitiert später eine Zeitung Programmdirektor Hans-Werner Conrad. Reporter Geyer und Berg suchen die Kabarettisten daraufhin in ihrer Garderobe auf und diskutieren mit ihnen über Zensur. Und so können die Drei Tornados ihren Unmut zum Thema Kabarett und Fernsehen und Wahlkampf doch noch verbreiten, allerdings sind sie wegen eines hektischen Stimmengewirrs nur sehr schlecht zu verstehen. Ein paar Sendungen später ist der Kabarettist Dietrich Kittner sauer auf die Redaktion, weil ein Beitrag von ihm zur Volkszählung arg gekürzt gesendet wird.
Spektakuläre Aktionen gehören zum redaktionellen Konzept der Extratour. Eine von ihnen richtet sich gegen das Kriegerdenkmal am Hamburger Dammtor. In der Sendung werden die Zuschauerinnen und Zuschauer dazu aufgefordert, das Denkmal nach Art des Verpackungskünstlers Christo mit mitbrachten Decken, Tüchern und Bettlaken zu verhüllen. Sogar der Rundfunkrat des NDR beschäftigt sich mit der Aktion und kritisiert, der Beitrag verletze "die Achtung vor der Meinung anderer in unduldsamer Weise" und achte nicht "die sittlichen Überzeugungen von Teilen der Bevölkerung".
Ende Februar 1988 sucht die Redaktion per Zeitungsanzeige Abnehmer für Atomabfälle. "Nebenverdienst: Für die befristete Lagerung schwach radioaktiven Materials suchen wir: Kellerräume, gut verschließbar. Pro Fass zahlen wir 150 Mark im Monat, gesundheitliche Gefährdung ausgeschlossen." Etliche Bürger beschweren sich bei der Polizei, allerdings melden sich auch Interessen, die Atommüll einlagern wollen.
Grimmepreis in Silber
Im Jahr 1989 wird die Extratour nach 19 Folgen eingestellt. Zwei Jahre zuvor erhalten die redaktionell verantwortlichen Birgitt Reckmeyer und Rolf B. Tiesler einen Grimme-Preis mit Silber, weil Radio Bremen mit der Extratour nach Ansicht der Jury ein "genuines Fernsehkabarett" gelungen sei, "eines, das kräftig und unbekümmert den Vergreisungstendenzen des Mediums entgegenarbeitet".
Als Ersatz für die Extratour wolle Radio Bremen Ende des Jahres 1989 mit einem völlig neuen Unterhaltungsmagazin auf Sendung gehen, zitiert der Weser-Kurier einen Sprecher von Radio Bremen. Der Arbeitstitel der Sendung laute "Total normal". Dass diese Sendung eine neue Erfolgsgeschichte von Radio Bremen werden wird, weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand.