Die dienstälteste deutsche TV-Talkshow
Vom Gefühl her gibt es sie schon immer – die Bremer Talkshow 3nach9. Aber zum ersten Mal lief die dienstälteste deutsche Fernseh-Talkshow am 19. November 1974.
Der Start von 3nach9 im gemeinsamen Dritten Fernsehprogramm von NDR und Radio Bremen und damals noch SFB war in den 70er Jahren eine Sensation.
Immer überraschend und auf der Höhe der Zeit
Ob Ex-Kommunarde Fritz Teufel auf einen leibhaftigen Bundesminister mit einer Wasserpistole schießt oder eine Prostituierte sich handgreiflich mit einer Feministin anlegt, ob ein Moderator unbekleidet posiert oder im Eifer des Gefechts von einem Gast gebissen wird, ob Campino von der Band "Die Toten Hosen" Maria Schell beleidigt oder Mareike und Mathieu Carrière intime geschwisterliche Geheimnisse ausplaudern – 3nach9 ist immer für eine Überraschung gut.
Zehn Fakten und Anekdoten aus der Geschichte von 3nach9:
1 Ursprünglich lief die Sendung mit drei Moderatoren im Dritten Programm um kurz nach neun Uhr abends.
Hieraus kreierte die Redaktion den Titel der Sendung. Als sich die Zahl der Moderatoren und die Sendezeit änderten, blieb man beim Titel, der sich mittlerweile zum Markenzeichen entwickelt hatte.
2 Gottfried Böttger war der Pianist der Sendung
Die allerersten musikalischen Töne beim Start von 3nach9 im November 1974 kamen vom Pianisten Gottfried Böttger und seinem Ragtime-Klavier. Genau 40 Jahre lang blieb er Pianist der Talkshow. Böttger starb am 16. Oktober 2017 in Hamburg.
3 Über die Bremer Talkpremiere schrieb Der Spiegel:
"Am Dienstag letzter Woche kam aus dem Bremer Studio 3 die erste Talk-Show der Nordkette. 3nach9 genannt, mit drei Moderatoren und der Botschaft: Der Fernseher muss kein toter Briefkasten sein. Denn wenn Talk-Show, dann so oder ähnlich: kein feines Posieren auf teuren Gestühlen, sondern Leben in der Bude." (Der Spiegel, 48/1974)
4 50 Jahre 3nach9 in Zahlen
In den vergangenen 50 Jahren kamen mehr als 4.000 Gäste ins 3nach9-Studio. Bisher haben 47 Moderatorinnen und Moderatoren die Radio Bremen-Talkshow 3nach9 moderiert. Giovanni di Lorenzo präsentiert bereits seit 1989 den Talkshowklassiker, Judith Rakers seit 2010.
5 1978 traute die noch immer in tiefer Prüderie verharrende Republik ihren Augen und Ohren nicht:
3nach9-Moderator Wolfgang Menge lässt sich von der Unternehmerin und Sexshopbetreiberin Beate Uhse erklären, warum ein Präservativtrockner etwas "für Sparsame" ist.
6 In den 80er Jahren zog Fritz Teufel im Studio eine Wasserpistole und griff Gerlinde Schlichter zum Glas Rotwein…
...weil er "immer schon mal einen Bundesminister nass machen wollte". Minister Hans Matthöfer kontert, in dem er Teufel ein Glas Wasser über das Hemd kippt. Wasser war der Feministin und Autorin Gerlinde Schlichter in einer 3nach9-Sendung 1984 nicht genug, um ihren Abscheu gegenüber Karl-Heinz Germersdorf auszudrücken. Sie leerte ihr Glas Rotwein im Nacken des Bordellchefs.
7 3nach9 stand immer wieder für intensive Gespräche
So auch beim aufsehenerregenden Talk am 23. November 1990 mit Eberhard von Brauchitsch zur Flick-Affäre: Im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo bricht er sein öffentliches Schweigen im Fernsehen.
8 Künstlerin startet ihre Weltkarriere bei 3nach9
Am 8. Oktober 2004 trat die damals noch unbekannte Amy Winehouse bei 3nach9 auf – es folgte eine Weltkarriere.
9 Amtierender Bundeskanzler bei 3nach9
Das gab es noch nie: Hoher Besuch zur 600. Ausgabe der dienstältesten Talkshow im deutschen Fernsehen: Mit Olaf Scholz ist zum ersten Mal ein amtierender Bundeskanzler bei 3nach9 zu Gast - und gewährt dabei seltene Einblicke in sein Privatleben.
10 50 Jahre 3nach9
Am 15. November 2024 begeht 3nach9 ein großes Jubiläum. Zum 50. Geburtstag feiert Radio Bremen 3nach9 mit einer Live-Sendung mit Marianne Koch, der ersten Moderatorin von 3nach9. Außerdem mit der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, Schauspiel-Ikone Iris Berben, der stimmgewaltige Sängerin Sarah Connor, Ausnahmeschauspieler Joachim Meyerhoff und dem Bahn-Nomaden Lasse Stolley.
Erinnerungen von Dieter Ertel, des Erfinders von 3nach9
Dieter Ertel († 8. Oktober 2013) war 1974 Fernsehdirektor bei Radio Bremen. Die Idee zu einem speziellen Talk-Show-Format hatte er bereits zu seiner Zeit beim Süddeutschen Rundfunk. Zum 30. Geburtstag von 3nach9 erinnerte sich Ertel daran, wie es zu 3nach9 kam:
"Es muss etwa 1970 gewesen sein, dass ich mir ernsthafte Gedanken machte über Wesen und Zukunft des Fernsehens. Ich hatte dem Medium 15 Jahre lang gedient, als Dokumentarfilmer, und spürte Überdruss. Ich fürchtete die Routine, die Langeweile des alltäglichen Trotts, und fragte mich, ob wir die Möglichkeiten des Mediums wirklich schon ausgeschöpft hatten. Das Leben, sagte ich mir, sei niemals fertig, und die Dominanz des neuen Mediums erweise sich immer noch im erregenden Erlebnis des Dabeiseins. Also durch die Livesendung mit all ihren Überraschungen. Ähnliche Gedanken machten sich auch andere. Ich hörte, dass in Berlin Wolfgang Menge über neue Formen der Nachrichtenprogramme nachsann. Ich rief ihn an und fragte, ob er bei uns bei einem unerhört innovativen Unternehmen mitwirken wolle.
Menge reiste an, und damit begann das verrückteste Kapitel meiner Berufszeit. Mit einem halben Dutzend Kollegen setzten wir uns zusammen und entwickelten eine Sendung, die vollkommen der Parole aus Bert Brechts 'Mahagonny' entsprach: 'Vor allem aber achtet scharf, dass man hier alles dürfen darf.' Es war der direkte Weg in die Katastrophe.
Unsere Gesprächspartner fühlten sich angepöbelt und beleidigt und schrieben bitterböse Briefe an den Intendanten. Ein katholischer Sozialpolitiker aus dem Raum Ulm wollte sich nur widerstrebend von unserer Moderatorin anhören, dass ein erigiertes Glied ein schöner Gegenstand sei. (Oswalt Kolles sexuelle Revolution war damals in aller Munde.) Die Harfenistin wartete vergebens auf ihren Einsatz. In einer Sofortkritik aus einem Nebenstudio bescheinigte uns Walter Jens totalen Wirrwarr mit einigen interessanten Ansätzen. Doch das Verhängnis war nicht mehr aufzuhalten.
Zweiter Versuch bei Radio Bremen
Als ich Anfang 1974 nach Bremen ging, hatte ich eine Aufzeichnung des verbotenen Programms im Gepäck, führte sie den Mitarbeitern vor und fragte, ob wir unter geordneteren Verhältnissen eine neue Pilotsendung riskieren sollten. Alle stimmten zu. Wolfgang Menge war sofort bereit, wieder mitzumachen. Wir fanden aber, dass – nicht nur wegen des kargen Bremer Etats – drei Moderatoren genügen müssten.
Zu Menge stießen also der Chefredakteur Gert von Paczensky, ein Polemiker ersten Ranges, und Marianne Koch. Ihr Name stieß zunächst auf Verwunderung, man kannte sie nur als attraktive Schauspielerin mit Hollywood-Erfahrung und wusste nichts von ihrer kritischen Eloquenz. Die Bildregie übernahm Mike Leckebusch – als Chef des 'Musikladens' das Idol der musikbesessenen Jugend. Die Redaktion hatte Alfred Mensak. Mit dieser Formation und dem Titel 'Drei nach neun' gingen wir im Herbst 1974 auf Sendung. Der Erfolg: Die Presse wurde auf Radio Bremen aufmerksam. Das war der Durchbruch.
Nach drei Monaten war die Sendung eine feste Größe im Dritten Programm, der Westdeutsche und der Hessische Rundfunk übernahmen sie live, jeder Taxifahrer kannte 3nach9. Unsere Show war zum Aushängeschild von Radio Bremen geworden."